Die neue Blickrichtung
Eines meiner Lieblings-Osterbilder stammt von dem georgischen Künstler Irakli Parjiani (1950-1991). Darauf ist Maria zu sehen: eine kleine, traurige Gestalt, ganz in schwarz gekleidet und mit dunklen Augenringen im blassen Gesicht. Einsam und weinend steht sie vor dem leeren Grab und starrt fassungslos hinein.
Hinter ihr steht der auferstandene Jesus: eine überlebensgroße Figur in weißem Gewand, von Licht umflossen. Ganz nah steht er bei Maria. Fast berühren sie sich. Aber Maria scheint ihn nicht zu bemerken. Sie ist nur auf das leere Grab fixiert. Dabei müsste sie sich einfach nur umwenden, nur eine kleine Drehung vollbringen – und aus der Trauer würde Freude werden, aus der Dunkelheit Licht, aus der Leere Fülle, aus der Verzweiflung lebendige Kraft. Maria müsste nur die Blickrichtung ändern.
Die derzeitige Krise ist ein Anstoß für mich, auch meine Blickrichtung zu überprüfen: Wohin schaue ich normalerweise? Was erscheint mir wichtig in meinem Leben? Was nimmt mich und meinen Blick gefangen? Wovon komme ich nicht los? Was hält mich fest?
Und auch: Worauf sind wir als ganze Gesellschaft fixiert? Wo starren wir schon viel zu lange in immer nur die gleiche Richtung? Wo müssten wir unsere Blickrichtung ändern, damit wir wieder zu lebendiger Kraft finden?
Im Johannesevangelium lese ich, wie die Geschichte mit Maria weitergeht: Irgendwann dreht sie sich tatsächlich um. Sie zeigt, dass es möglich ist: dass wir Menschen unsere Welt neu in den Blick nehmen können. Es ist möglich: neue Wege zu entdecken und zu beschreiten. Wir können Altes, Lebensverneinendes hinter uns lassen und uns einer neuen Wirklichkeit öffnen. Auch wenn diese neue Wirklichkeit uns erstmal ungewohnt und fremd erscheint.
Als Maria sich umdreht, sieht sie einen Fremden. Sie weiß nicht, mit wem sie es da zu tun hat. Erst als der Fremde sie mit ihrem Namen anspricht, erkennt sie, dass es Jesus ist.
Das möchte ich auch gern erleben: dass ich meine Blickrichtung verändere, dass ich mich auf eine neue, vielleicht auch fremde Wirklichkeit einlasse und dass mir darin Gott begegnet.
Eure Sabine Ramm-Böhme
© Sabine Ramm-Böhme
Dieser Text ist Teil der Reihe „Seelenfutter“: Die geistlichen Gedanken in stürmischen Zeiten der Pastoren der Paul-Gerhardt-Gemeinde.
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